Orientalischer Poesie Urelemente

[223] In der arabischen Sprache wird man wenig Stamm- und Wurzelworte finden, die, wo nicht unmittelbar, doch mittelst geringer An- und Umbildung sich nicht auf Kamel, Pferd und Schaf bezögen. Diesen allerersten Natur- und Lebensausdruck dürfen wir nicht einmal tropisch nennen. Alles, was der Mensch natürlich frei ausspricht, sind Lebensbezüge; nun ist der Araber mit Kamel und Pferd so innig verwandt als Leib mit Seele, ihm kann nichts begegnen, was nicht auch diese Geschöpfe zugleich ergriffe und ihr Wesen und Wirken mit dem seinigen lebendig verbände. Denkt man zu den obengenannten noch andere Haus- und wilde Tiere hinzu, die dem frei umherziehenden Beduinen oft genug vors Auge kommen, so wird man auch diese in allen Lebensbeziehungen antreffen. Schreitet man nun so fort und beachtet alles übrige Sichtbare: Berg und Wüste, Felsen und Ebene, Bäume, Kräuter, Blumen, Fluß und Meer und das vielgestirnte Firmament, so findet man, daß dem Orientalen bei allem alles einfällt, so daß er, übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung Widersprechendes auseinander herzuleiten kein Bedenken trägt. Hier sieht man, daß die Sprache schon an und für sich produktiv ist, und zwar, insofern sie dem Gedanken entgegenkommt, rednerisch, insofern sie der Einbildungskraft zusagt, poetisch.

Wer nun also, von den ersten notwendigen Urtropen ausgehend, die freieren und kühneren bezeichnete, bis er endlich zu den gewagtesten, willkürlichsten, ja zuletzt ungeschickten,[223] konventionellen und abgeschmackten gelangte, der hätte sich von den Hauptmomenten der orientalischen Dichtkunst eine freie Übersicht verschafft. Er würde aber dabei sich leicht überzeugen, daß von dem, was wir Geschmack nennen, von der Sonderung nämlich des Schicklichen vom Unschicklichen, in jener Literatur gar nicht die Rede sein könne. Ihre Tugenden lassen sich nicht von ihren Fehlern trennen, beide beziehen sich aufeinander, entspringen auseinander, und man muß sie gelten lassen ohne Mäkeln und Markten. Nichts ist unerträglicher, als wenn Reiske und Michaelis jene Dichter bald in den Himmel heben, bald wieder wie einfältige Schulknaben behandeln.

Dabei läßt sich jedoch auffallend bemerken, daß die ältesten Dichter, die zunächst am Naturquell der Eindrücke lebten und ihre Sprache dichtend bildeten, sehr große Vorzüge haben müssen; diejenigen, die in eine schon durchgearbeitete Zeit, in verwickelte Verhältnisse kommen, zeigen zwar immer dasselbe Bestreben, verlieren aber allmählich die Spur des Rechten und Lobenswürdigen. Denn wenn sie nach entfernten und immer entfernteren Tropen haschen, so wird es barer Unsinn; höchstens bleibt zuletzt nichts weiter als der allgemeinste Begriff, unter welchem die Gegenstände allenfalls möchten zusammenzufassen sein, der Begriff, der alles Anschauen und somit die Poesie selbst aufhebt.

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Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 223-224.
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